Die bunte Theaterwelt an unserer Schule

Andorra - Du sollst dir kein Bild machen! Ein Stück über ein Stück von Max Frisch

Der DS-Kurs 12 spielte eine ganze Woche lang in unserer Aula „Ein Stück über ein Stück". Die Produktion basierte auf dem Original des Schweizer Schriftstellers Max Frisch. Es erzählt von Diskriminierung, Vorurteilen, Rassismus, Antisemitismus der NS-Zeit im Stil einer Parabel, aber auch von Lügen, Schuld und nur scheinbar reinem Gewissen. Der DS-Kurs hat Original nur stellenweise übernommen und insgesamt auf 45 Minuten Spielzeit gekürzt. Zum Teil hat er mit den Originalfiguren auch völlig neu inszeniert. Diese ergänzenden Texte waren vom Kurs selbst verfasst worden und fügten sich so nahtlos in die Sprache des modernen Klassikers ein, dass nicht erkennbar war, wo der Autorentext gesprochen wurde und wo die eigene Interpretation und Fantasie zu den Figuren begann.

Der Verlauf der Handlung wurde mehrfach gestoppt und Szenen auch mit anderen theatralen Mitteln wiederholt, um sie in anderem Licht erscheinen zu lassen. Die Effekte wurden sogar erklärt, sodass das Publikum nicht nur Theater sah, sondern auch sehen konnte, wie es gemacht wurde. Es gab eine Moderatorin, die im Gespräch mit dem Publikum war, Handlung, Figuren und Spieltechniken erklärte. Dazu gehörte unter anderem das gelungene Statusspiel - schauspielerische Kniffe, um einen hohen oder niedrigen sozialen Status einer Figur darzustellen. Am Ende hatten die Zuschauer die Gelegenheit, Fragen an die Schauspieler zu stellen, z.B. über die Entstehung dieser Inszenierung oder offen gebliebene Fragen zu Handlung und Figuren. Nennenswert ist auch, dass diese Stückentwicklung eine Coronaproduktion war und somit vielen Einschränkungen unterlag, wie der Notwendigkeit, auf der Bühne den Abstand einzuhalten. Sie brachte aber auch neue Ideen mit sich. So waren im Lockdown eigenständig Monologvideos gedreht worden, die in die Inszenierung eingebaut wurden, z. T. ergab sich sogar die Interaktion vor Videowand und dem Schauspieler davor. Das ganze Stück wurde mit zwei getrennten Besetzungen einstudiert, was doppelte Arbeit bedeutet hatte.

Aus den bisherigen Theaterstücken an unserer Schule stach diese Inszenierung nicht nur durch ihr ernstes Thema hervor, sondern auch durch die Bildwirkung von Kostümen und Bühnenausstattung, die bewusst einfach gehalten waren. Die Farben waren reduziert, Schwarz und Weiß dominierten nicht nur in den Videos. Weiße Rahmen vor schwarzem Hintergrund deuteten abstrakt Räume an, die Figuren trugen jeweils nur wenige Kennzeichen für ihre Figur zum weißen T-Shirt. So wurde der Soldat nur durch zwei Gürtel angedeutet, die in den Augen der Zuschauer zur Uniform wurde. Der Doktor trug einen weißen Kittel. Nur eine Figur fiel durch vollständige Kostümierung auf: Die unbekannte Lady, die sich als Mutter der Hauptfigur Andri entpuppte. Sie war aus dem „schwarzen" Land ins „weiße" gekommen - eine Farbensymbolik, die bei Max Frisch schlicht Gut und Böse behaupten sollen. Dabei zeigt das Stück, dass die „Weißen" keineswegs moralisch so rein sind, wie sie behaupten. Auch bei ihnen gibt es Antisemitismus, wie Andri, schmerzlich erfahren muss.

Max Frisch verlegte die Situation, die eigentlich auf die Schweiz zur NS-Zeit und die Judenverfolgung anspielte, in ein fiktives Land: Andorra. Die Bewohner dieses Landes stellen sich im Stück als besonders unschuldig dar, hassen die Schwarzen für ihre Judenverfolgung, sind aber letztlich genauso antisemitisch wie ihr „schwarzes" Nachbarland. Andri verliert am Ende sein Leben, obwohl er noch nicht einmal Jude ist, er wird nur dafür gehalten. In Wahrheit will sein Vater den Ehebruch nicht zugeben, aus dem er entstanden ist, und verkauft nach außen die Lüge, das Kind sei als ein gerettetes Judenkind von ihm in die Familie aufgenommen worden. Die Tragödie nimmt ihren Lauf, als die „Schwarzen" nach Andorra kommen und eine „Judenschau" in Andorra abhalten. Hätte man Andri nicht zuvor mit Vorurteilen und Ablehnung überhäuft, hätte niemand in ihm einen Juden sehen können. Die Lüge des Vaters sorgt für den Untergang des Sohnes, aber auch das diskriminierende Verhalten der Andorraner, das im Gegensatz zu ihrer Selbstwahrnehmung steht. Das Ensemble wiederholte im Chor gesprochen immer wieder die Sätze:

Andorra soll weiß sein, denn Andorra ist rein. Andorra ist das beste Land der Welt. Wo ist der Mensch so frei?".

Ich muss ehrlich sagen, dass mich die Dynamik auf der Bühne und während des Stückes gefesselt hat. Jede Figur hat ihren Anteil zur Geschichte und zum Gesamtbild beigetragen. Besonders der Soldat blieb mir im Gedächtnis. Er war genau so, wie man sich einen nationalsozialistischen Soldaten vorstellt. Dementsprechend war diese Rolle schwer anzunehmen, aber ich muss sa-gen, dass sie erschreckend lebhaft verkörpert wurde. Körperhaltung und Mimik standen dabei auf jeden Fall im Vordergrund und die aufrechte und stolze Körperhaltung in Kombination mit den weit aufgerissenen Augen und dem sonst starren Gesichtsausdruck haben definitiv überzeugt. Außerdem fand ich die Rolle des Vaters sehr interessant. Seine Sturheit und vielleicht auch Angst sein aufgebautes Dasein zu zerstören, waren teilweise unfassbar. Er hat nie die Wahrheit ausgesprochen und den Konsequenzen ins Gesicht geschaut, stattdessen hat er immer wieder nur gesagt, er sei gekommen, „um die Wahrheit zu sagen, bevor es Morgen wird". Am Morgen ist der Sohn bereits tot. Zudem war das Schweigen sein Rückzug und deshalb sagt er auch nichts zum Thema und möchte es ebenso wenig aufkommen lassen, deswegen schweigt er und erwartet, dass andere das auch tun. In einer Szene hat er diesbezüglich seine Frau angeschrien, dass sie schweigen solle. Letztendlich sagte er die Wahrheit, als er betrunken war, doch an dem Punkt ist er so tief in diese Lüge verwickelt, dass ihm nicht mal mehr Andri glaubt. Andris ganzes Verhalten basiert auf dieser Lüge und das ist sein Verhängnis. Die Entwicklung des Charakters war sehr spannend und dieses Dilemma, dass niemand von seiner Affäre erfährt, aber Andri trotzdem sicher sein soll, fand ich sehr gut umgesetzt. Man konnte erkennen, wie tiefgründig sich die Darsteller mit ihren Figuren haben. Andris Charaktergestaltung war eine hervorragende schauspielerische Leistung, z.B. der Untertext, mit welchem er sich eingeredet hat, dass er sich schämen müsse, ein Jude zu sein. Der Wechsel aus Hoffnung, als er beispielsweise um die Hand von Barblin angehalten hatte, und Unsicherheit in allen anderen Interaktionen mit den Andorranern hatte einen sehr eindrucksvollen Effekt.

Das Stück endete mit Statements, die die Schauspielerinnen und Schauspieler vorlasen, nachdem sie ihre Kostüme abgelegt hatten. Diese Statements waren zuvor im Unterricht von den Klassen geschrieben worden, die im Publikum saßen, was allerdings nicht alle wissen konnten. So hatte Andris Tod nicht das letzte Wort in der Inszenierung, sondern unsere eigene Haltung zu Dis-kriminierung. Doch die Originalszene, die als „Judenschau" bei Max Frisch bezeichnet wird, wird lange im Gedächtnis bleiben Die Erkenntnis, dass man einen Juden, der keiner ist, dennoch als solchen „erkennt" und die Katastrophe unausweichlich wird wurde sehr langsam vom Kurs vermittelt, sie machte immer fassungsloser. In Standbildern wurden Möglichkeiten dargestellt, woran Andri erkannt wird. Am Ende kniete er und eine Pistole wird an seinen Kopf gehalten, das Licht geht aus, ein Schuss ist zu hören. Dieses Standbild bleibt im Gedächtnis, gerade weil die Sinnlosigkeit dieser Handlung erschreckend ist. Es war die Intention der Inszenierung, zu erklären, was Ausgrenzung ist und bewirken kann. Andri hat sich am Ende selbst als jemanden gesehen, der es verdient hat, bestraft zu werden. Aufklärung war nicht mehr möglich.

Der DS-Kurs wollte zeigen, wie Vorurteile einen Menschen manipulieren können. Daher stammt auch der Untertitel des Stückes, den es im Original nicht gibt: Du sollst dir kein Bild machen! Max Frisch erklärt das in einem Tagbucheintrag als Leitgedanken des Stückes: Wer andere nötigt, dem Bild ähnlich zu sein, das Vorurteile von ihm zeichnen, der geht den ersten Schritt, dessen letzter Schritt die Vernichtung einer diskriminierten Gruppe sein kann. Das Stück soll darstellen, wie Ausgrenzung einen Menschen beeinflussen kann. Das perfekte, beeinflusste „Opfer" ist in diesem Fall Andri. Obwohl man den Hintergrund einer Person nicht kennt, nimmt man sich das Recht über diese zu urteilen und damit Vorurteile in die Welt zu setzen. Doch auch wie Ausgrenzung verändern Vorteile eine Person selten ins Positive. Und wir alle haben sie, gegen Verhaltensweisen, die uns einfach nicht geläufig sind oder auch Religion, selten erkennen wir sie als Vorurteile und betiteln sie nur als Meinung. Jedoch sollte man Menschen richtig kennenlernen und nicht nach ihrer Gruppenzugehörigkeit urteilen. Wir alle sind Menschen und wollen so akzeptiert wer-den, wie wir sind, also warum auch nicht jedem anderen diesen Wunsch erfüllen?

Wer die Inszenierung gesehen hat, wird besser verstehen, dass Rassismus immer noch ein aktuelles Thema ist und wie grausam Antisemitismus ist. Wir Menschen sind alle gleich; wir kommen allein auf die Welt und sterben allein - da muss man keinem die Zeit dazwischen zur Hölle machen. Jeder verdient es glücklich zu sein und jeder verdient die Chance, seinen Platz in dieser Gesellschaft und auf der Welt zu finden. Niemand ist mehr wert und niemand weniger als ein anderer. Wir sind hier zusammen und können das nicht ändern. Also sollte man sich kein voreiliges Bild machen und sich das Recht herauszunehmen, einen anderen Menschen zu verurteilen und kaputt zu machen. Die Inszenierung ihres „Stückes über ein Stück" ist dem DS-Kurs 12 unter der Spielleitung von Frau Dr. Sissakis rundum gelungen.

YIva Briese